One Year

One Year

Blog | 14.12.2022

Triggerwarnung: Thema Suizid

Nun sitze ich hier ein Jahr später und schreibe diese Zeilen. Ich sitze am selben Tisch, in derselben Wohnung, in derselben Straße, in derselben Stadt – wenn ich mich umschaue, hat sich ganz oberflächlich betrachtet nicht viel verändert. Es war ein Jahr, in dem ich mich so einsam, allein und unverstanden gefühlt habe wie noch nie in meinem Leben. In Wahrheit hat sich mein gesamtes Leben verändert – unvorbereitet, schutzlos und in voller Härte.

9206 Menschen sind in Deutschland im Jahr 2020 durch Suizid gestorben. Über 100.000 Menschen unternahmen einen Suizidversuch. Das bedeutet: alle 57 Minuten nimmt sich ein Mensch selbst das Leben und alle 5 Minuten findet ein Suizidversuch statt. In den vergangenen 10 Jahren sind in Deutschland zwischen 500.000 und 1 Million Menschen vom Suizid eines ihnen nahestehenden Menschen betroffen gewesen. In Deutschland starben im Jahr 2020 deutlich mehr Menschen durch Suizid (9206) als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und AIDS zusammen (6950). Was für Zahlen – sie sind erschreckend.

Ich muss sagen, ich kannte sie bis vor kurzem nicht. Warum auch? Bisher hatte ich mit diesem Thema keinerlei Kontakt. Bis vor einem Jahr. Heute vor einem Jahr hast du deinem Leben ein Ende gesetzt. Noch heute fällt es mir schwer, es in Worte zu fassen. Denn wenn ich das tue, wird mir die Endgültigkeit deiner Entscheidung noch bewusster. Mir wird klar, dass wir keine Gespräche, keine gemeinsamen Aktivitäten, keine Zärtlichkeiten mehr erleben oder austauschen werden.

Der Tod ist kein neues Thema für mich – ihm bin ich schon häufig in meiner beruflichen Laufbahn begegnet. Ich habe Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet, Angehörigen mein tiefstes Mitgefühl entgegengebracht und die Toten versorgt. Ich habe Familienmitglieder verabschiedet und war in meinem Leben auf einigen Beisetzungen. Es war immer eine tiefe Trauer zu spüren. Doch die Trauer nach Suizid war und ist eine andere. Sie ist heftiger, brutaler.

Dein Suizid macht mich fassungslos, wütend, verletzlich – und wirft unfassbar viele Fragen auf. Allen voran nach dem „Warum?“. Eine Frage, die simpel erscheint, und doch für mich nie zu beantworten ist. Man durchdenkt die letzten Wochen und Monate und versucht eine Antwort darauf zu finden – vergebens. Der, der die Frage beantworten könnte, ist nicht mehr da.

 

Es ist eine innere Zerreißprobe. Man spürt völlig unterschiedliche Gefühle in ein und demselben Moment – diese dauernde Angespanntheit überträgt sich auf den Körper: man schläft kaum, die Gedanken drehen sich im Kreis, man vergisst zu essen und zu trinken, es kommen Kopfschmerzen, Bauchschmerzen hinzu. Man fällt in ein Loch – kein Sicherungsseil, das den Fall stoppt, kein Griff, an dem man sich festhalten kann. Man fällt und fällt, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, ob und wann man auf dem Boden aufkommt. Man möchte wütend sein auf das, was geschehen ist, aber kann es nicht – denn wenn man wütend auf etwas sein könnte oder müsste, dann auf den, um den man im selben Moment so tief trauert und den man schmerzlich vermisst.

Nachdem mich die Nachricht erreichte, dass du tot bist, verstand ich die Welt nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, ich müsste weg – wohin, war egal. Ich wollte schreien und brachte keinen Ton heraus. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich spürte die gesamte Breite meiner Gefühle mit all ihren Facetten in einem Moment. Ich wollte nicht allein sein, aber Gesellschaft konnte ich auch nicht ertragen. In meinem Kopf das reinste Chaos – ein Sandsturm voller Fragen und Gefühle, der mir das Sehen unmöglich machte. In diesem Chaos bleibt die Zeit stehen.

Die ersten Monate nach deinem Tod ging es um das eigene Überleben – eine rohe, harte Angelegenheit. Man übersteht jeden einzelnen Tag, man fühlt keine Freude, nur eine fast unerträgliche Traurigkeit, einen Schmerz, der mir völlig neu war. Das Selbst, das eigene Leben und die Menschen, die darin eine Rolle spielen, werden zweitrangig. Man ist nicht in der Lage, sich mit sich und all dem, was auf einen einprasselt, auseinanderzusetzen. Dabei gibt es in dieser Zeit wenig, um das man sich nicht kümmern muss: Behörden, Banken, öffentliche Einrichtungen nehmen keine Rücksicht darauf, was man selbst benötigt. Doch was man wirklich benötigt, weiß man selbst nicht. Man lebt in einem Vakuum, in einem Leben, das vollkommen aus den Fugen gerissen wurde. Man hat die Kontrolle verloren und es ist einem egal. Wo Gefühle waren, ist nichts als eine große Leere.

Trauer war in früheren Zeiten eine gemeinsame Trauer. Es war normal, dass Familie, Freunde und Bekannte zu Besuch kamen. Sie haben zu essen mitgebracht, haben zugehört, Trauer und Schmerz wurde geteilt. Es wurde akzeptiert, dass man als Hinterbliebener Zeit benötigte, um wieder auf die Beine zu kommen.

Heute findet Trauer meist allein und ohne viele Gespräche statt. Von seinem Arbeitgeber hat man wenige Tage Zeit, um wieder zu „funktionieren“. Die Gesellschaft erwartet, dass man sich schnell wieder beruhigt und all die Aufgaben erfüllt, die einem gestellt werden. Doch so einfach ist es nicht.

Erst vor einigen Wochen habe ich damit begonnen zu realisieren, dass er nicht im Urlaub oder sonst wo ist, sondern tot. Ist ein geliebter Mensch nicht an einer Erkrankung oder durch einen tragischen Unfall verstorben, sondern durch Suizid, wird es sehr schnell still um einen. Tod ist ein Thema, das kaum mehr Platz in unserer Gesellschaft hat. Handelt es sich Suizid, ist es noch schwieriger.

Suizid ist noch immer ein Tabuthema. Es ist schwierig, Hilfe für sich selbst zu finden. Es braucht Zeit, nach so einem traumatischen Erlebnis wieder auf die Beine zu kommen. Wieder Vertrauen in andere zu fassen und die Kontrolle über das eigene Leben wiederzuerlangen. Es braucht nicht nur Zeit, es kostet auch wahnsinnige Kraft. Manchmal frage ich mich, woher ich diese Kraft schöpfe. Ich bin froh, dass ich gute Freunde habe. Sie waren und sind noch immer für mich da – gaben mir den größtmöglichen Halt, haben zugehört und spendeten Trost. Sie haben sich jeden Tag um mich gekümmert, stellten ihre eigene Trauer hinter meine. Haben mit mir wichtige Stationen und Tage im Jahr begangen, wie zum Beispiel seinen Geburtstag. Wir haben zu diesem Anlass einen Baum gepflanzt – im Park unweit unserer Wohnung. Eine schöne Geste – wir schufen uns unsere eigene Erinnerungsstätte an einem Ort, der für Noël und mich eine große Bedeutung hat.

Ich konnte in den ersten Monaten keine andere Position einnehmen. Mittlerweile kann ich die Position wechseln – nun kann auch ich ein Trittstein sein und anderen Halt geben. Es ist mir wichtig, gemeinsam zu trauern, zu erinnern, zu sprechen, aber auch das Hier und Jetzt nicht aus den Augen zu verlieren. Ich sehe es als nicht selbstverständlich an, so eine Verbindung zu meinen Freunden zu haben. Zu anderen Menschen in meinem Umfeld habe ich keinen Kontakt mehr – nicht, weil ich es so wollte. Es gibt Menschen, die sich nicht mehr melden, mir aus dem Weg gehen, mich meiden.

Heute, nach vielen Gesprächen mit anderen Hinterbliebenen, die sehr ähnliche Erfahrungen machen mussten, verstehe ich, dass das Verhalten aus einer eigenen Überforderung, Sprachlosigkeit und Angst kommt. Es ist die Angst, etwas „Falsches“ zu tun oder zu sagen. Die Angst vor meiner Trauer und dem Aushalten. Dabei gibt es kein Falsch oder Richtig. Im Gegenteil, dieses Verhalten fördert das Gefühl der Einsamkeit, man fühlt sich stigmatisiert.

Auch ich habe diese Sprachlosigkeit, die Überforderung und Angst. Auch in einer Sprachlosigkeit kann man gemeinsam sein und diese gemeinsam aushalten. Es hätte mir mehr geholfen.

Den heutigen Tag begehe ich bewusst. Es ist früh morgens, in der Wohnung brennen alle Kerzen, ich liege im Bett, mit einer Tasse frisch gebrühten, schwarzen Kaffee. Ich denke wieder an die letzten gemeinsamen Stunden und versuche dabei noch immer herauszufinden, ob ich dein Vorhaben hätte erkennen können. Eine unbequeme und verzehrende Frage. Wir schlafen gemeinsam im Bett, der Wecker klingelt, wir kuscheln uns aneinander und tauschen Zärtlichkeiten aus. Nachdem der Wecker zum dritten Mal läutet, steige ich aus dem Bett, du rollst dich auf meine Seite des Bettes und schläfst weiter. Bevor ich das Haus verlasse, komm ich zu dir, setze mich neben dich, streiche dir zärtlich über den Rücken – gebe dir einen Kuss, du drückst mich fest an dich, sagst „Ich hab‘ dich sehr lieb, mein Lilly“, gibst mir einen weiteren Kuss und ich ging zur Arbeit.

Ich verstand damals nicht, dass das der Moment war, an dem du dich von mir für immer verabschiedet hast. Hätte ich es gewusst, wäre ich nie gegangen.

Die Zeit ist gekommen. Ich höre die letzte an mich gerichtete Sprachnachricht – aus den Lautsprechern ertönt deine Stimme – es tut weh. Ich versuche so aufmerksam wie möglich zuzuhören und schiebe in diesem Moment all meine Gedanken und Gefühle beiseite. Nach 49 Sekunden ist es still. Ich höre meinen Herzschlag, er pocht wie wild. Ich fühle, wie die Trauer mich überwältigt und beginne zu weinen.

Am Mittag treffen sich Freunde und Familie an dem Baum, den wir zu seinem Geburtstag vor einigen Monaten gepflanzt haben. Wir haben ihn gepflanzt, um an unserem Lieblingsort im Park unweit unserer Wohnung einen Platz zu schaffen, an dem wir uns mit dir verbunden fühlen. An diesem Mittag haben wir gemeinsam an dich gedacht, teilten Erinnerungen. Es wurde Essen und Trinken mitgebracht. Es wurden weiße Rosen niedergelegt und ein Anhänger in Form eines Herzens daran gehängt. Schön zu sehen, welche Stellung du bei den Menschen eingenommen hast, wie wir in einer Gemeinschaft diesen schmerzlichen Tag begehen können.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, fünf wundervolle Jahre mit einem Partner an meiner Seite verbracht zu haben, zu dem ich noch immer eine tiefe Liebe spüre und den Wunsch, uns irgendwann einmal wiederzusehen. Ich fühle eine Verbundenheit und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.

 

Ein Text von Benjamin Wanner