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Eisbär, Psychiatrie – heute „eher munter“

Armin Rösl, Journalist

Armin Rösl hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er in der Psychiatrie Freunde finden würde.

Was soll ich ankreuzen? Ich zögere. Ich sitze an einem Glastisch im Empfangsbereich der Station der psychiatrischen Klinik und starre auf das weiße DIN-A4-Blatt vor mir. „Befindlichkeitsbogen“ steht darauf, das Papier stellt Gemütszustände zur Auswahl. 28 Stück sind es, aufgelistet in gegensätzlichen Paaren: kraftvoll – kraftlos, müde – aufgeweckt, einsam – umsorgt, geliebt – verlassen. Ich habe jeweils drei Möglichkeiten: Ich kann „eher“ ankreuzen oder „weniger“ oder „weder noch“. So wollen sie hier, zu Beginn der Therapie, mein Seelenleben ausloten. Ich soll mich entblößen. Aber was soll ich bloß ankreuzen?

Eher lebensmüde als lebensfroh

Ich rutsche im Ledersessel herum, drei weitere Patienten sitzen in meiner Nähe. Ich hoffe, dass die anderen nicht auf meine Antworten starren. Ich will nicht, dass sie sehen, was ich ankreuze. Ich will nicht angesprochen werden, nichts von mir preisgeben. Muss aber, zumindest auf dem Stück Papier. „Aber was passiert, wenn ich ,eher lebensmüde‘ wähle?“, denke ich. Lebensfroh, das trifft nicht zu in diesen Wochen. Ich frage mich: „Wenn ich lebensmüde wähle, werde ich dann ans Bett geschnallt?“ Ich mache mein Kreuzchen bei „weder noch“. Vor ein paar Tagen noch war ich lebensmüde. Akut selbstmordgefährdet. Mein Psychiater hatte zwar die Gefahr der Selbstzerstörung fürs Erste gebannt, bei intensiven Gesprächen, mit Medikamenten, im Zuge einer mehrtägigen Krisenintervention. Aber der Therapeut und meine Frau waren beide der Meinung, dass eine ambulante Behandlung nicht ausreichen würde, so schwer war meine Depression. Als der Psychiater dann im Sprechzimmer in meinem Beisein mit dem Krankenhaus telefonierte, saß ich zusammengesunken im Stuhl und bekam Panik: „O Gott, was machen die mit mir in der Psychiatrie?“, durchzuckt es mich. „Werde ich mit Drogen vollgepumpt, kriege ich Elektroschocks?“ Apathisch stimmte ich einem stationären Aufenthalt zu.

Versagen, Angst, Schuld

Seit Nächten hatte ich nicht mehr geschlafen. Tagsüber war ich immer müde. Antriebslos. Geistesabwesend und nicht ansprechbar. Ständig sprach ich von Versagen, Angst, Schuld – und von Selbstmord als einzigem Ausweg. Um die Gedanken aus meinem Kopf zu bugsieren, schlug ich immer wieder, wenn ich allein war, mit dem Kopf gegen die Wand. Nach kurzen Sekunden des Schmerzes waren sie wieder da.

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Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ich in der Psychiatrie Freunde finden würde.

Tage später, als ich auf dem Gelände des Klinikums stehe, vor einem Haus mit schmuckloser Fassade, ist mein erster Gedanke: Gefängnis. Trotzdem gehe ich hinein, fahre mit meiner Frau im engen Aufzug in den dritten Stock. Während der Fahrt hoffe ich, der Lift würde nie oben ankommen. Ein Schwindelgefühl, gepaart mit Übelkeit, erfasst mich. Rumms. Die Aufzugtüren öffnen sich, und über der Doppelglastür steht: „Station 7/3“.

Sicherheitsglas außen am Fenster

Wie benommen gehe ich hinein, Menschen gehen wie in Zeitlupe an mir vorbei. „Was mache ich nur hier?“ Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich fühle mich wie ein geprügeltes Tier, das sich seinem Schicksal ergibt. „Ich will wieder heim“, möchte ich sagen, aber ich bringe den Mut dazu nicht auf. Ich betrete das Zweibettzimmer, zu dem mich der Pfleger geleitet hat. Zwei Betten, Regale, ein schmaler Kleiderschrank, ein Holztisch mit zwei Stühlen und ein Waschbecken. Kein Fernseher, kein Radio, keine Bilder an der Wand. Außen am Fenster haben sie eine dicke Sicherheitsglasscheibe befestigt.

„Wie eine Zelle“, schießt es mir durch den Kopf. Der Pfleger erklärt: „Gemeinschaftstoiletten und -duschen befinden sich auf den Gängen. Fernsehen im Aufenthaltsraum ist ab 17 Uhr erlaubt.“ Wortlos nehme ich den Zettel mit den Therapieangeboten entgegen. Als meine Frau geht, lege ich mich hin und starre an die weiße Decke. Mein Kopf ist leer. Alles ist weg. „Angst und Depression gemischt“, so lautet die Diagnose, die der behandelnde Arzt nach Untersuchungen am ersten Tag in der Klinik stellt. Ich fühle mich unwohl im hell erleuchteten Arztzimmer. Ich höre zwar die Stimme des Arztes, doch lauter sind die Fragen, die in meinem Kopf umherschwirren: Ob ich jemals wieder lachen kann? Ob ich jemals wieder mit meiner Frau oder mit anderen normal reden kann? Mit meinen Kindern spielen? Und was ist mit dem Beruf? Ich bin Journalist. „Werde ich wieder arbeiten“, frage ich mich, „oder ruiniere ich meine Familie?“

Eisbär, etwas Gold und ein erster Lichtblick

Später, als ich einen neuen Befindlichkeitsbogen ausfülle, kreuze ich „eher erschöpft“ an. Ich sitze in einer undurchdringlichen Blase. Ich sehe die Menschen um mich herum, aber ich bekomme keinen Zugang zu ihnen. Ich weiß nicht, ob ich etwas sagen soll – und was.

Beim ersten Mittagessen sitzt mir Manuela gegenüber, eine knapp 40-jährige Diplom-Sozialpädagogin, man duzt sich unter den Patienten. Wie alle hier trägt sie Alltagskleidung. Ihre Erkrankung sieht man den Patienten nicht an – wie auch, sie sitzt doch im Kopf. Manuela sagt: „Mir wäre lieber, ich hätte mir den Arm gebrochen, würde operiert werden, danach einen Gips tragen und wüsste, dass ich nach ein paar Wochen wieder gesund bin.“ Sie wird wegen Angststörung und Depression behandelt. „Ich habe keine Ahnung, wann ich wieder raus darf.“ Ich nicke: „Ich auch nicht.“ Die ersten Tage habe ich „roten Ausgang“, darf die Station, wenn überhaupt, nur in Begleitung von Angehörigen oder Pflegepersonal verlassen. Ich sitze oft in der Sitzecke, die bei den Patienten „Lounge“ heißt. Ich versuche Zeitung zu lesen, doch es geht nicht. Die Wörter purzeln umher, ich werde sofort müde und will am liebsten ins Bett. Doch das darf ich nicht. Die Patienten sollen sich nicht auf ihre Zimmer zurückziehen. Damit sie dort nicht wieder in ihrem eigenen Saft schmoren.

Zweimal pro Woche wird der Befindlichkeitsbogen ausgeteilt, dieses Mal kreuze ich „eher müde“ an. In den ersten Tagen fällt es mir verdammt schwer, aufzustehen und den Tagesablauf durchzustehen. Um 7 Uhr werden die Patienten geweckt, eine halbe Stunde später steht Morgengymnastik auf dem Plan. Völlig gerädert schäle ich mich aus dem Bett. Ziehe mich an und schleppe mich in den Gymnastikraum. „Lieber mache ich mit, bevor ich Schwierigkeiten bekomme“, denke ich. Nach dem Frühstück folgt die erste Medikamentenausgabe des Tages. Ich stelle mich in die Reihe und warte auf meine Tabletten, die ich vor den Augen der Krankenschwester einnehmen muss. Mittags, abends und vor dem Schlafengehen um 22 Uhr wiederholt sich die Prozedur.

Ich erinnere mich an den Film „Einer flog über das Kuckucksnest“, mit dem Schauspieler Jack Nicholson als Insasse einer psychiatrischen Anstalt. Den hatte ich früher einmal gesehen. Jetzt, so scheint es, habe ich selbst eine Rolle in dem Film.

Weiter geht es mit Kunsttherapie. Seit Jahren habe ich keinen Pinsel in der Hand gehabt. Die Therapeutin gibt jeden Tag ein Thema vor, dann dürfen die 15 Teilnehmer im hellen Gemeinschafts- und Essensraum eineinhalb Stunden malen. Anschließend sitzen wir auf Holzstühlen beisammen und sprechen über die Bilder, die wie in einer Ausstellung an der Wand hängen. Wir sprechen über die Gefühle, unter deren Einfluss sie entstanden sind. Das Thema heute: Ruhe und Kraft. Ich wühle in dem kleinen Kasten mit Bildern aus Zeitungen und Zeitschriften, den Hilfsvorlagen, und entscheide mich für einen Eisbären, der unter stahlblauem Himmel auf einer Eisscholle steht.

Ich verliere mich, spüre plötzlich ein warmes Kribbeln im Bauch. Am liebsten wäre ich jetzt dieser Eisbär, der Wind und Wetter trotzt. So zeichne ich das Tier: ein Eisbär im Sturm, umtost vom Sturm. Aber der Bär steht sicher. Ich bin so vertieft in die Arbeit, dass ich zum ersten Mal seit Langem für einige Minuten meine Angst vergesse. Das passiert mir in der Kunsttherapie immer wieder.

Beim Thema „Heimat, Haus, ein Ort, an dem man sich wohlfühlt“, malen alle anderen Patienten Häuser oder Berghütten. Später erzählen sie von wohligen Gefühlen. Ich male ein schwarzes Loch, dessen Kern leicht goldfarben ist. „Das ist meine Heimat, meine innere Mitte, die ich überall dabei habe“, erkläre ich.

Musik hilft – Rhythmus auch

Zwei Tage später sitze ich zum ersten Mal in der Musiktherapie. „Wir wollen erreichen, dass die Schallplatte im Kopf zumindest für kurze Zeit aufhört, sich zu drehen“, erläutert der Therapeut. Dann schlägt er sanft auf eine große Buschtrommel und gibt Rhythmus und Geschwindigkeit vor. Aufgabe ist es, mit den selbst ausgesuchten Instrumenten in den Rhythmus einzusteigen. Es erklingen Schlitztrommel und Xylophon, ich habe mir zwei Congas genommen, meine Füße wippen im Takt. Ohne Vorgaben spielt jeder drauflos – und doch ergibt es zusammen ein harmonisches Klanggebilde. Ich lächle, es macht großen Spaß. Ich habe mehr als 1000 CDs zu Hause, Musik ist für mich Ablenkung und Entspannung. Ich trommle wie in Trance, spüre nur noch die Musik, habe die Augen geschlossen. Fast 20 Minuten lang schwinge ich mit den anderen in einem ruhigen Rhythmus. Jetzt würde ich „eher glücklich” ankreuzen.

Nach etwa zwei Wochen habe ich mich auf der „7/3“ eingelebt. Bei der wöchentlichen Patientenrunde melde ich mich mit meinem Zimmergefährten, der an einer Psychose leidet, freiwillig zum Tischdienst. Morgens, mittags und nachmittags in großen Kannen Kaffee und Tee für alle Patienten kochen, nach jedem Essen die Tische abwischen – werde ich das alles zeitgerecht schaffen? Im Beruf war ich es gewohnt, unter Druck zu arbeiten. Ich musste komplizierte Aufgaben schnell erledigen. Doch hier, auf Station, hatte ich am ersten Tag sogar beim Ausfüllen der Essenskarten für die Krankenhausküche Schwierigkeiten gehabt: Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, welches Menü und wie viele Semmeln ich bestellen sollte. Das war alles zu viel. Aber nun klappt es. Auch mit dem Tischdienst. Ich bin erleichtert und auch ein bisschen stolz.

Eher munter und kraftvoll 

Ich habe begonnen, mich mit einigen Patienten anzufreunden. Mit Sabine, Arzthelferin, Anfang 30, Depression. Und mit Michael, Universitätsprofessor, Mitte 4 0, Suchtmittel-Entzug und Depression. In den folgenden Wochen kommen die Sozialpädagogin Manuela vom ersten Tag dazu, und der knapp 60-jährige Walter, selbstständig, Depression nach Schlaganfall.

Vor meiner Einlieferung hatte ich mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ich in der Psychiatrie Freunde finden würde. Es ist jetzt, als lebe ich in einer Wohngemeinschaft. „Wir sitzen alle im selben Boot“, sagt Michael. Wir führen intime Gespräche über das bisherige Leben und die Zukunft. Über Themen, die man „draußen“ nicht so intensiv besprechen würde mit jemandem, den man gerade erst kennengelernt hat.

Ich habe mittlerweile „grünen“, also freien Ausgang, muss mich nur noch ab- und rückmelden. Meine Medikamente wurden im Laufe der Wochen reduziert, ein in Drogenkreisen als „Chill-Pill“ bekanntes Präparat zur Beruhigung („Tavor“) haben sie komplett abgesetzt. Denn die Angst, sie schwindet, und die Lust am Leben steigt. Besonders gering ist sie nach den fast allmorgendlichen Läufen – eine weitere Therapieform. Das Pensum: knapp fünf Kilometer in 30 Minuten. Zu Beginn bin ich schon nach den ersten Runden erschöpft. Doch bereits nach drei Tagen spüre ich, wie mein Kopf frei wird. Mittlerweile freue ich mich auf die Laufrunden, das Aufstehen am Morgen bedeutet keine Qual mehr. Ich kreuze nun „eher munter“ und „eher kraftvoll“ an.

Wie ein Jongleur im Zirkus

Nach knapp vier Wochen taste ich mich in der Arbeitstherapie langsam wieder an meinen Beruf heran, sitze am Computer. Ich kann mich wieder konzentrieren. Kraft schöpfe ich besonders aus den Gesprächen mit der Psychotherapeutin, die ich zweimal die Woche sehe. Es geht um Erlebnisse in der Kindheit, der Jugend und aus der jüngsten Vergangenheit, und darum, Ängste aus jener Zeit in den Griff zu bekommen. Oft helfen ganz einfache Übungen. Ich staune, bin erleichtert. Ich erkenne, dass ich einiges in meinem Leben ändern, das Übel an der Wurzel packen muss.

„Ein Jongleur im Zirkus versucht, mit acht, neun oder zehn Bällen zu jonglieren. Sie aber wollten 20 Bälle gleichzeitig in der Luft halten“, hat die Therapeutin mir gesagt. Ich nehme mir vor, die Wunden aus meiner verkorksten Kindheit zu pflegen. Ich will meine vielen ehrenamtlichen Engagements reduzieren. „Und lernen, Aufgaben zu delegieren und auch einmal ,Nein‘ zu sagen – ohne schlechtes Gewissen.“

Zurück ins Leben

Nach fünf Wochen und zwei Tagen verlasse ich die Klinik, es ist kurz vor Weihnachten. Ich freue mich, wieder bei meiner Familie zu sein, wieder Kraft fürs Leben zu haben. Am Tag vor meiner Entlassung muss ich den Befindlichkeitsbogen ausfüllen, ein letztes Mal. Ich mache ein Kreuz bei „eher lebensfroh“. Wenige Tage später absolviere ich den Silvesterlauf im Münchner Olympiapark. Ich schaffe die zehn Kilometer unter 60 Minuten. Ich bin glücklich.

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