Offen und voller Hoffnung – Welttag der Suizidprävention am 10. September 2022

Offen und voller Hoffnung – Welttag der Suizidprävention am 10. September 2022

Blog | 10.09.2022

Der 10. September, Welttag der Suizidprävention, ist in Zeiten globaler Krisen und Konflikte wichtiger denn je. Er steht für Aktion und Hoffnung und fordert einen vorurteilsfreien, schnellen und offenen Umgang mit dem Thema. 

Mein Name ist Stefanie Waßmann. Ich bin Vorstandsmitglied der Deutschen DepressionsLiga, 38 Jahre alt, verheiratet, Mutter eines 8-jährigen Sohnes. Ich lebe in Berlin und hatte mit 23 Jahren zum ersten Mal Suizidgedanken.  

Meinen ersten Kontakt mit Suizid hatte ich indirekt, über die immer mal hörbare Bahn-Durchsage: „Verspätungen wegen eines Notfalleinsatzes“. Menschen am Bahnsteig bleiben betreten stehen, raunen, manche blicken verständnislos. In einer Großstadt, in der morgendliches schnelles Vorankommen, Pünktlichkeit, Arbeiten, Effizienz und Anonymität auf der Tagesordnung stehen, sorgt diese Durchsage bei den meisten Menschen wohl eher für Ärger und seltener für Mitgefühl oder gar Anteilnahme. Mich haben diese Reaktionen schon immer traurig gemacht. Schließlich kann es sein, dass ein Mensch den endgültigen Entschluss gefasst hat, sich das Leben zu nehmen; keine andere Möglichkeit mehr gesehen hat, sich helfen zu lassen. Mein erster Gedanke ist: Wie schrecklich! Wie geht es jetzt der Familie? Was ging in dem Menschen vor? Wieso konnte sich die Person nicht anders helfen? 

2008 konnte ich mir die letzten Fragen bereits selbst beantworten. Denn ich hatte selbst Kontakt mit den leidvollen Gedanken gemacht. Im Alter von 23 Jahren, als ich meine Diplomarbeit schrieb und nicht mehr weiter wusste. Ich kam erholt und voller Vorfreude aus meinem schönen Auslandssemester in Nordspanien zurück nach Berlin und begann im Wintersemester 2008 an meiner Diplomarbeit zu schreiben. Die Tage wurden schnell kürzer, dunkler und verregnet. Meine Freunde sah ich nicht und der Ausgleich fehlte. Schlafstörungen machten sich breit. Manchmal s ich bereits morgens um vier Uhr an der Arbeit und war um acht bereits unglaublich erschöpft. Nach wenigen Wochen massiver innerer Unruhe wurde mein Kopf immer wirrer, Zukunftsängste machten sich breit. Ich zog mich so sehr zurück, dass ich nach kurzer Zeit keinen anderen Ausweg mehr sah, meinem elenden Zustand ein Ende zu setzen und anderen keine „Last“ mehr zu sein. Glücklicherweise hatte ich das Thema Suizid mit einigen Schlaftabletten abgemildert. Quasi einen Hilferuf getätigt. Trotzdem war es ein Schock für meine Familie. Mit Unterstützung meiner Mama wurde ich nach einigen Tagen in einer Klinik aufgenommen und liebevoll aufgepäppelt.

Zehn Wochen lang stationärer Aufenthalt: vier Wochen auf der akuten Krisenintervention und weitere sechs Wochen mit unterschiedlichen Anwendungen, wie Ergo- und Bewegungstherapie, Entspannung, Gruppensitzungen und Einzelgesprächen. Hierzu könnte man ein eigenes Buch verfassen. 

 

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Viele Jahre später: Meine Oma hat sich am Reformationstag 2018 früh am Morgen das Leben genommen. Ihr Partner fand sie. Dieser unglaublich traurige Vorfall hat das Leben von mir, ihrem Sohn, also meinem Vater, seinen Brüdern und den restlichen Teil der Verwandtschaft von einem Moment auf den anderen schlagartig verändert. Es war ein enormer Schock für jeden Einzelnen von uns. Jede und jeder hat sich in seiner eigenen Geschwindigkeit dem Thema genähert, getrauert und Fragen gestellt. Gefühlsspannen von großem Entsetzen und Fassungslosigkeit bis hin zu Wut oder auch Angst vor der Zukunft, aber auch Verständnis oder sagen wir Verzeihen – alles spielte in den vergangenen fast vier Jahren eine Rolle. 

Wenn dieser Fall irgendwie etwas Gutes gehabt hat, dann, dass die Familie sich seitdem einander ganz anders geöffnet hat. Es wurden andere Gespräche geführt als vor dem Tod meiner Großmutter. Neben den häufigen Fragen des „Warums?“ und „Wie hätten wir das verhindern können?“ gab es schließlich auch den Wunsch, sich mehr umeinander zu kümmern. Die Familie und den Zusammenhalt mehr zu pflegen, sich häufiger zu sehen und niemanden „allein“ zu lassen. Auch, sich häufiger zu sagen, wie wichtig man füreinander ist und dass man sich liebhat. Sich Hilfe anbieten oder einfach mehr füreinander interessieren, statt dem alltäglichen Trott hinzugeben und zu warten, bis wieder jemand Geburtstag hat, um einen Pflichttermin wahrzunehmen. Dieses aufeinander achtgeben gehört für mich wesentlich zur Prävention. 

Es ist schlimm, wenn sich jemand suizidiert – und wir dürfen uns alle fragen, ob diese Dinge erst passieren müssen, damit man aufwacht und füreinander da ist? Ich sage „Nein“ und hoffe, dass meine Geschichte anderen Mut macht, sich zu öffnen. Ehrlich zu sagen, was man braucht, was gerade nicht läuft. Ehrlich zu sagen, dass man diese quälenden Gedanken hat und unbedingt Hilfe benötigt. Ich hoffe, dass jeder von Euch, der/ die betroffen ist, sich jemanden anvertrauen oder direkt die 112 anrufen kann bzw. ins nächstgelegene Krankenhaus geht, um professionell Hilfe zu suchen. Denn auch, wenn sich diese schwarzen Gedanken richtig und stimmig anfühlen – das Leben wird wieder lebenswert und der graue Schleier kann und darf sich unbedingt wieder lösen! 

Auf der anderen Seite möchte ich jedem Mut machen, auf Mitmenschen zuzugehen, die sich derzeit zurückziehen, sich ändern oder Ängste und Sorgen äußern. Hört Ihnen zu und seid füreinander da!  

 

Alles Gute 

Eure Stefanie Waßmann 

Vorstandsmitglied der Deutschen DepressionsLiga e.V. 

 

 

Links und Hilfen zum Thema:

www.welttag-suizidpraevention.de

Soforthilfe: Telefon -112 oder ins Krankenhaus ihrer Umgebung

Hilfecenter – Deutsche Depressionsliga e.V.

Organisationen, die helfen:

www.suizidpraevention-deutschland.de 

Betroffene Angehörige setzen sich bei AGUS e.V. dafür ein, dass Suizid kein Tabuthema mehr ist und sich u.a. Hinterbliebene in Selbsthilfegruppen austauschen können: https:/ www.agus-selbsthilfe.de