Regina Egger
Eine Reise quer durch Deutschland, im „ vermutlich einfachsten Campingwagen in Deutschland“. Ganz spontan. Klingt fast romantisch. Doch die Vorzeichen sind eher ungünstig. Sich um Familie, Beruf und ihr Umfeld zu kümmern hat Regina Egger viel Freude bereitet. Doch es ist anstrengend. Als ihr dann im Job aggressives Mobbing widerfährt, machen Körper und Geist zu: Sie findet sich in tintenschwarzer Depression wider, kann kaum aufstehen, glaubt nicht an eine Zukunft. Als die schlimmste Phase vorbei ist, schwört sie sich: „Nie wieder. Ich lebe nur einmal, ich werde an meiner Gesundheit arbeiten.“
Und so beginnt die Entdeckung Deutschlands. Die Kamera klickt und klickt. Da ist die Liebe zur Natur und Respekt vor dem Gedeihen unserer Nahrung in der Kulturlandschaft. Die Empathie für die Menschen, die der Autorin ihre Geschichten erzählen, ist zu spüren. Klare Kante gegen Faschismus wird als bedeutsam erfahren. Und natürlich die Depression, ein ungebetener Gast, der mitreist, der aber nicht das letzte Wort haben soll.
Ein Mutmacher für alle Menschen mit Depression und
auch für Angehörige in interessanter Einblick.
epubli 2022
324 Seiten
ISBN 9783756536184
Rezension von DDL-Mitglied Mechthild Strahler
„Die Frau muss gar nix. Die macht was sie will.“
Wenn sich eine Depression von ihrer schwersten Seite zeigt, dann kann es sich für Betroffene anfühlen, als seien sie sich selber auf quälende Weise fremd. All das, was einen mal auszumachen schien – nicht mehr zugänglich. Regina Egger hat eine ähnliche Erfahrung gemacht: Während ihrer schwersten depressiven Episode ist sie erfasst von einer Starre und Gefühllosigkeit (68). Die Erinnerungen an ihre Lieblingsmusik, ihre liebsten Buchtitel oder an ihr altes Fachwissen sind begraben unter der „Deprideckung“ (53); das Gehirn ist „verknödelt“ (256). Sozialer Rückzug, das Verkriechen im eigenen Bett, Erschöpfung, Ängste, das sind nur ein paar der Dinge, die ihren Alltag in dieser Zeit ausmachen. Mit „Eine Handvoll Morgen“ möchte die Autorin Verständnis für die Depression schaffen und auch Menschen Mut machen, wenn sie zeigt, wie sie auf ihrer Deutschlandreise Kilometer für Kilometer bzw. Erfahrung für Erfahrung immer weiter ins Leben und in die Lebendigkeit zurückfindet.
Wegbereitend für den Abstieg in die Krise waren einerseits private Belastungen, aber insbesondere die Erfahrung von aggressivem Bossing am Arbeitsplatz. Regina Egger sieht sich konfrontiert mit der Realität der Berufsunfähigkeit. Und sie stellt sehr anschaulich heraus, wie bedeutsam das Konzept der Akzeptanz ist, und zwar die Akzeptanz dieser Erkrankung und eines neuen, viel „zerbrechlicheren Lebens“, wie die Autorin schreibt. Doch sie lässt sich nicht lähmen von den Einschränkungen der Depression: „Ja, ich hatte Grenzen. Aber allerhand konnte ich machen. (257)“ Und in „Eine Handvoll Morgen“ werden wir Zeuge dessen.
Das Buch nimmt die Form eines Reiseberichts an. Unvermittelt, nah am Geschehen folgen wir der Autorin auf ihrer Reise in ihrer „fahrenden Blumenwiese“ – ihr Auto, das sie selbst mit Blumen bemalte. Wir sehen die farbenfrohen Bilder von (Kultur-)Landschaben und Menschen, die die Autorin mit Worten zeichnet. Gleichzeitig werden die Schilderungen durchsetzt von kursiven Passagen, in denen die reflexive Distanz zum Geschehen zunimmt: Angestoßen vom Erlebten bietet die Autorin darin Einblicke in Reflexionen und Erinnerungen. So wird deutlich, dass diese Reise im Innersten der Autorin einiges bewegt und wie so die dicken Decken der Depression zunehmend brüchiger werden. Auch zusätzliche Videobeiträge, die per QR-Code online verfügbar sind, lassen die Ereignisse der Reise lebendig werden und können als Ausdruck der gestalterischen Kraft der Autorin gedeutet werden, die ihr selbst so wichtig ist. Über die Thematik der Depression hinaus schildert die Autorin die Eindrücke, die sie von einem Deutschland sammelt, das gerade aus dem Corona-Lockdown erwacht. Dabei beschäftigt sie sich mit gesellschaftlichen Themen wie dem deutschen Nationalsozialismus, der DDR und der Wiedervereinigung oder dem Umweltschutz und der Klimakrise. Sie macht dabei allerdings auch deutlich, dass es eine Herausforderung darstellt, sich als von Depression Betroffene mit belastenden Themen zu beschäftigen und sich für wichtige gesellschaftliche Anliegen, die einem am Herzen liegen, zu engagieren. Denn dies kann einen gefährlich nah dahin bringen, in eine negative Abwärtsspirale herunterzugeraten oder die eigenen Energiereserven zu überschreiten. Wir begleiten Regina Egger daher dabei, wie sie ihre Gesundheit zu ihrem Job macht und erst einmal „kleine Brötchen“ backt (13), bis die Erfolgserlebnisse auf Reisen immer zahlreicher und größer werden.
Es wird trotz allem klar: So eine Reise bietet keine Wunderheilung. Die Erkrankung ist echt und sie ist da. Regina Egger akzeptiert dies und beginnt, ihr Leben wieder zu gestalten. Angereichert von intensiven Sinneseindrücken spiegelt die Erzählung wider, wie die Autorin es schafft, sich ins „Hier und Jetzt“ zu holen, den Moment zu genießen, nichts tun zu müssen und einfach zu sein. Oder wie es ein kleiner Junge, der die Autorin nach einem Seebad in Sachsen Anhalt beim Dösen beobachtet, unbeabsichtigt treffend auf den Punkt bringt: „Die Frau muss gar nix. Die macht, was sie will.“ (120)
So kann man beobachten, wie Regina Egger wieder zunehmend an Perspektive für ihr Leben zurückgewinnt, wie sie wieder Wünsche und Vorhaben formuliert – und Betroffene von Depressionen wissen, wie unmöglich dies scheinen kann, wenn die Depression schwer auf der Brust wiegt. Und dann, wenn man sich schwer vorstellen kann, dass es je wieder besser und man je wieder „man selbst“ wird, dann kann dieser Reisebericht in der Tat Mut machen. „Eine Handvoll Morgen“ kann sachte und leichtfüßig dazu ermutigen, die ganz persönliche Form der Entdeckungsreise zu finden, um so über die eigenen Grenzen hinaus wieder die eigenen Möglichkeiten zu erkennen.