„Die Folgen sind nicht absehbar“ – weder für Patienten, noch für psychiatrische Kliniken

Interview mit Prof. Dr. Peter Zwanzger, fachlicher Berater der Deutschen DepressionsLiga e.V., zu geplanten Strafzahlungen für psychiatrische Kliniken.

 

Bonn, 1. August 2023 – Ist die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Kliniken in Gefahr? Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) plant ab 1. Januar 2024 in einer Personal-Richtlinie Strafzahlungen für psychiatrische Kliniken, sollten diese zu wenig Fachpersonal haben. Der G-BA bestimmt und entscheidet in Richtlinen die Inhalte der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland. Wir sprachen mit Prof. Dr. Peter Zwanzger über das Vorhaben und die möglichen Auswirkungen. Der 54-Jährige ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt des kbo-Inn-Salzach-Klinikums in Wasserburg. Mit 900 stationären und teilstationären Behandlungsplätzen zählt es zu den größten Fachkrankenhäusern für Psychiatrie und Psychosomatik in Deutschland. Seit etwa eineinhalb Jahren unterstützt Prof. Zwanzger die Deutsche DepressionsLiga als wissenschaftlicher Beirat.

Armin Rösl, stellv. Vorsitzender und Sprecher der DDL, unterhielt sich mit ihm über die vom G-BA geplante Änderung.

 

Herr Prof. Zwanzger, erläutern Sie bitte kurz, in welchen Fällen die vom G-BA geplanten Strafzahlungen fällig wären, wann sie greifen und wen sie betreffen würden.

Prof. Peter Zwanzger: In der Theorie ist die Idee, dass Patienten nur behandelt werden sollen, wenn auch ausreichend Personal da ist, wer zu viele Patienten behandelt, ohne ausreichend Personal zu haben, muss Strafe zahlen. Hört sich ja im ersten Moment gut an – die Kliniken sollen also ausreichend Personal einstellen und das Geld nicht anderweitig ausgeben. Die Patienten wären dann gut versorgt und das Personal nicht überlastet – alles wunderbar. Allerdings wird dabei eine Reihe von entscheidenden Aspekten übersehen: das Geld anderweitig auszugeben, ist ohnehin nicht mehr möglich, hier bestehen Nachweispflichten. Ausreichend Personal einzustellen ist zwar leicht gesagt, in Zeiten des Personalmangels aber praktisch nicht immer möglich. Außerdem – selbst wenn man das Personal findet – ist es ziemlich schwierig, mit den Kassen so viele Stellen zu verhandeln, damit es auch mit Urlaubs- und Krankentagen reicht. Das Hauptproblem aber ist: die Strafzahlungen sind so hoch, dass das kein Klinikum überlebt. Das bewegt sich in einer großen Klinik ganz schnell in Millionenhöhe.

 

Wenn also eine Klinik zu wenig qualifiziertes Personal hat, muss es dafür Strafzahlungen leisten? Wäre es nicht besser, die Bundesregierung würde Kliniken bei der Personalsuche unterstützen?

Prof. Zwanzger: Natürlich kann man die Politik für den Personalmangel nicht verantwortlich machen. Nach meinem Empfinden tun Bund, Länder und Bezirke ihr Möglichstes, um der Problematik auf allen Ebenen entgegenzuwirken. Wenn aber die Politik akut keine Abhilfe für dieses Problem schaffen kann, sollte sie zumindest dafür sorgen, dass nicht Kliniken und Patienten für den Fachkräftemangel büßen müssen.

 

Wie würden Strafzahlungen den Klinikbetrieb beeinflussen?

Prof. Zwanzger: Um das zu verstehen, muss man wissen: gemäß der Richtlinie bedeutet Personalmangel schon, wenn nur eine einzige Berufsgruppe nicht vollständig besetzt ist. Wir reden hier nicht von einem eklatanten Arzt- oder Pflegemangel. Vielmehr ist es so, dass die Personalvorgabe schon dann nicht erfüllt sein kann, wenn z.B. ein Ergotherapeut erkrankt ist. Dann gilt die gesamte Behandlung des Patienten als unzulässig. Die Fachgesellschaft DGPPN hat gemeinsam mit anderen Institutionen eine Berechnung erstellt, der zufolge die große Mehrheit der psychiatrischen Kliniken in Deutschland mit der Scharfschaltung der Personalrichtlinie zum 1. Januar 2024 ins Defizit rutschen würde.

 

Aufgrund der geplanten Strafzahlungen befürchten Ärzte, dass es zu einem Verlust von Behandlungsmöglichkeiten in Kliniken kommen könnte. Welche Auswirkungen könnten die Sanktionen auf die Behandlung von psychisch kranken Menschen haben?

Prof. Zwanzger: Diese Befürchtung gibt es tatsächlich. Zwar bemühen sich Kliniken, Träger und Verantwortliche bereits seit langem, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Dazu gehören neben intensiven Bemühungen zur Personalgewinnung insbesondere auch die Schaffung komplementärer teilstationärer und ambulanter Behandlungsangebote – wenngleich dies natürlich keinen vollständigen Ersatz für stationäre Behandlungsplätze bedeutet. Für eine breite Anwendung dieser Ansätze brauchen die Kliniken aber auch andere regulatorische Rahmenbedingungen. Und inwieweit diese Maßnahmen ausreichend sind, muss sich zeigen.

 

Herr Prof. Zwanzger, mit welchen Erkrankungen kommen die Menschen zu Ihnen, welche Erkrankungen sind aktuell am häufigsten?

Prof. Zwanzger: Das ist kbo-Inn-Salzach-Klinikum zählt zu den größten Fachkrankenhäuser für Psychiatrie und Psychosomatik in Deutschland. Zu uns kommen Menschen mit allen Arten von Erkrankungen. Bei den psychischen Störungen spielen natürlich rein
zahlenmäßig Depressionen und Angststörungen die größte Rolle. In diesem Zusammenhang ist auch Suizidalität ein zentrales Thema. Genauso wichtig sind für uns aber auch psychotische Störungen, Demenzen und Abhängigkeitserkrankungen.

 

Wie helfen Sie Betroffenen?

Prof. Zwanzger: Zu den wichtigsten Säulen in der Behandlung psychischer Erkrankungen gehören die Psychotherapie und die medikamentöse Behandlung. Gerade bei der Psychotherapie hat sich in den letzten 20 Jahren in den Kliniken enorm viel getan. Wir haben mittlerweile spezifische Verfahren für jede psychische Erkrankung. Da gibt es spezielle Interventionen für Depression, genauso wie für Psychosen, Angst und für Persönlichkeitsstörungen. Auch die digitale Therapie hat mittlerweile bei uns Einzug gehalten und wir helfen unseren Patienten mit Smartphone basierten Interventionen oder Exposition in virtueller Realität.

 

Sollten die vom G-BA geplanten Sanktionen tatsächlich umgesetzt werden, müssten sie bestimmte Behandlungsmethoden minimieren, weil dazu das Geld nicht mehr da ist? Oder gar Patienten abweisen?

Prof. Zwanzger: Ein Abweisen von Patienten darf nicht die Lösung sein. Weder ethisch noch medizinisch. Wenn Kliniken allerdings wegen der Strafzahlungen in ein Defizit geraten, sind die Folgen natürlich nicht absehbar.

 

Psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen, sind in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus gerückt und werden von der Gesellschaft besser wahr- und angenommen. Dennoch sind die Wartezeiten auf Psychotherapieplätze oftmals für Betroffene unerträglich lang, im Durchschnitt 22 Wochen. Das gilt vor allem für ländliche Gebiete. Was muss sich ändern, damit flächendeckend eine ausreichende Versorgung gewährleistet ist? Der G-BA scheint mit den Strafzahlungen ein verkehrtes Zeichen zu setzen…

Prof. Zwanzger: Zunächst muss die Personalrichtlinie vollständig überarbeitet werden. Insbesondere die drakonischen Strafzahlungen weisen in die ganz falsche Richtung und müssen fallen. Andernfalls wird die Richtlinie ihr Ziel verfehlen. Zudem müssen ambulante Strukturen weiterentwickelt werden. Es ist richtig, dass an dieser Stelle die Versorgung aktuell nicht ausreichend ist. Aber auch hier ist die Frage, in welche Richtung ausgebaut werden sollte. Da muss es zunächst mehr um die Versorgung von schwerer erkrankter Patienten gehen. Was die psychotherapeutische Versorgung angeht, ist die bloße Mehrung an Psychotherapieplätzen ganz sicher nicht die Lösung. Vielmehr muss die ambulante Psychotherapie flexibler werden, man muss Notfallsprechstunden anbieten, man sollte eine Behandlung in ihrer Dauer so flexibel planen, dass immer die Möglichkeit besteht, auch weitere Patienten anzunehmen, wie das jeder Hausarzt auch machen muss.

 

Mit freundlichen Grüßen

Armin Rösl
Stellv. Vorsitzender und Öffentlichkeitsbeauftragter

Telefon: 07144-70489-60
E-Mail: a.roesl@depressionsliga.de

 

Pressemitteilung zum Download (PDF)

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